Im Restaurant TIAN, München
Im Restaurant TIAN, München
Birkenstock versus Botox - Ein Restauranterlebnis.
Die unbeeindruckte Berliner Grundhaltung, mit der meine Birkenstock-Schlappen zusammen mit mir ins Münchener TIAN geschlendert kommen und mich dabei wenig kreditwürdig wirken lassen, provoziert am Nebentisch. Im weißen Satinkleidgetüll steckt eine erbarmungslos eingeschnürte Dame, die meine Fußbekleidung zart angeekelt und mit meditativer Verständnislosigkeit anstarrt. Bei näherer Betrachtung versammelt sie an ihrem Tisch ausschließlich Personen, die phänotypisch ein gutes Genom und einen Gästelistenplatz auf einer exklusiven Party im P1 erahnen lassen; sie wirken als würden sie tagsüber in enger Neon-Sportbekleidung durch den Englischen Garten und um ihr Leben joggen, um abends vital in ihr Champagnerglas beißen zu können, falls der Nebenmensch die gleiche Designergarderobe trägt.
Meine entschiedene Pro-Casual-Fine-Dining-Attitüde prallt hier auf die unabsichtliche Karikatur einer veralteten Idee von Gourmet-Affektiertheit. Ist das München oder nur eine Situation? Der verunsichernde Auftakt wird umgehend von den sympathischen Service-Ladies wettgemacht, die uns auf ihren unprätentiösen Sneakers zum Tisch federn und beim Blick auf’s orthopädische Schuhwerk anerkennend grinsen.
Beim Gruß aus der Küche bin ich geradewegs beruhigt, dass ich zur Hose mit elastischem Bund statt zum Satinkleid gegriffen habe: Da ist sie wieder die TIAN-Experience, die mich im Wiener Mutterschiff unter Paul Ivic schon begeistert hat. Uns begrüßt ein flüssiger Maiskolben – knallig-gelb, samtige Konsistenz und die Jalapeno-Schärfe zieht sanft nach. Schöner Auftakt. In den meisten Restaurants überzeugen mich die vegetarischen Vorspeisen und Zwischengänge eher als die befleischten Hauptgänge, sind sie doch oft kreativer und technisch interessanter. In 7 Gängen allerdings abwechslungsreich und saisonal zu zeigen, dass vegetarische Küche mehr kann als Gemüse blanchieren und ein paar Gurken fermentieren, ist herausfordernd. Das seit 2014 besternte Wiener Tian hatte es mit gemüsigen Mini-Vernissagen auf den Tellern im Winter bestechend gut gemeistert und ich erwartete in der Münchener Dependance im Sommer nun Ebenbürtiges. Alle zwei Monate Menüwechsel - dabei entscheidet die saisonale Sonneneinstrahlung, was auf den Tellern landet.
Diese Saisonalität zeigt sich gleich bei der Vorspeise, die mit ihren beliebig zusammengefügten Einzelbauteilen einen Naschrundgang durch den Garten nachahmt: Kohlrabi als Tarte - gefüllt mit Tomatensalat, Radieschen und Sonnenblumenkernen - , an die eine Buttermilch-Schnittlauch-Soße gegossen wird. Optisch bemerkenswert, geschmacklich etwas blass, aber eben produkthofierend. Nach diesem selbsterklärenden Einstieg, gibt’s eine steile Progression hin zum ersten recht üppigen Gang: Die Lauchsuppe versorgt uns durch ihre kartoffelige Sämigkeit mit Hauptgangs-Wumms. Die veganen Maki-Röllchen zaubern einen spannenden Kontrapunkt und die schmelzige Burrata harmonisiert das traditionelle Süppchen mit den hippen Sushi-Elementen. Zufriedenes Zurücklehnen.
Während ich in Restaurants schwankende Aufdringlichkeitsgrade am Tisch erlebt habe, erkenne ich den selbstinszenierungsbefreiten Service aus dem Wiener TIAN wieder: Stets professionell-zurückhaltend und doch sofort angeschaltet, wenn es um leidige Foodie-Fragen geht. Hier kann jede*r alles erklären, bis ins Detail! Wie beim folgenden Gang, als mich die wache Service-Dame vom grübelnden Gabelgepieke erlöst und mir verrät, dass die blitzende Glitzerkugel auf meinem Teller ein Tomatengelee auf Agar-Agar-Basis ist, das mit Bronzepulver aufgebrezelt und um eine zuvor eingefrorene Ratatouille-Murmel gehüllt wurde. Dazu hochintensive Pflaumentomate und extreme Säure und Schärfe in den Paprika-Auberginen-Minielementen, die mit jedem Löffel punktuell explodieren. Was soll denn jetzt noch kommen?
Ein Lauchangriff, der bei ungeübter Zunge einem Aufstieg auf den Olympiaberg in Badelatschen gleicht. Ein Reiz-Reaktions-Ensemble aus säuerlich angemachten Pfifferlingen und einem süßlichen Mousse aus Lauch und Pastinake - die Rauchnote kommt hierbei vom angekokelten Lauch. Die zurückhaltend anbei liegenden Zwiebelchen bleiben unschuldig und geben lediglich zarte Würze und als Crunch kracht gepuffter Buchweizen. Dieser Gang hat eindeutig das höchste Herumwunder-Potential; wir kommen schließlich darauf, dass die Komplexität des Lauchs in allen Komponenten ausbuchstabiert wurde. Der Gang entwickelt sich wie kein zweiter: viel Süße, viel Rauch, viel Säure – einzeln gegessen, sind die Elemente erschlagend, aber selbst mich als Säure-Mimose überzeugt die präzise austarierte Gesamtkomposition mit ihrer komplexen Aromentiefe, die uns nachhaltig die Geschmacksknospen versohlt. Die Teller sind leer und wir uns einig, dass Lauch ein vollkommen unterschätztes Gemüse ist, das dringend eine angemessene Imagekampagne benötigt.
Der Spitzkohl braucht aufgrund seines Hipsterstatus keine Instagramkarriere als Popularitätsboost und wird im Hauptgang zurück ins bayerische Wirtshaus geholt. Mit deftiger Kohl-Kümmel-Soße imitiert die Umami-Granate eine herzhaft-bajuwarische Mahlzeit, während die Präsentation eingerollt in einer großen Tagliatelle den Kohlpopstar in Form eines sexy Türmchen aus der urigen Gastwirtschaft zurück auf den Gourmetteller bugsiert. Wer jetzt noch nach Fleisch verlangt, schubst auch kleine Enten in die Isar.
Das Dessert zeigt sich kompositorisch etwas einbahnig. Schokoladenmousse an Himbeere und Schokoladensorbet im Himbeersud. Gepimpt mit Rosenwasser ist die Kombination für den Sommer zwar erfrischend gedacht und bewahrt uns mit fruchtiger Säure vor dem Schoko-Tod, erreicht uns aber an diesem heißen August-Abend nicht klirrend kalt, sondern leicht angetaut. Schade. Die Mini-Financiers, die den französischen Gebäck-Klassiker mit Mandelmehl, Mandelstückchen, tonnenweise Butter und Amaretto sympathisch interpretieren, holen das eher unangestrengte Nachspiel aus der Eindimensionalität.
Ein erneuter Gruß aus der Küche überrascht uns anschließend mit Stachelbeersalat, der es sich mit Tonic-Schaum auf einem Kirsch-Crumble gemütlich gemacht hat, und tröstet uns zusammen mit dem abschließenden Schokosoufflee aus Walnuss und Haselnussmehl über unsere Temperaturdifferenzen mit dem Dessert hinweg.
In Zeiten des Casual Fine Dining können nur noch wenige Sternerestaurants den Standesdünkel einiger ausgewählter Gäste nähren und dem Tian in München scheint es darum genau nicht zu gehen. Der ursprüngliche Habitus gehobener Tischkultur, der lange Zeit die Barriere für Uneingeweihte darstellte, weicht zunehmend der gemeinsamen Begeisterung für einen genussvollen Abend: die der engagierten Gastgeber*innen, die mit Stolz ihre Kreationen präsentieren und die der genussfreudigen Gäste, die sich vorfreudig ein Erlebnis einkaufen. Und für Genuss braucht es weder gestärkte Tischdecken oder 80er-Jahre-Snob-Sommeliers noch das 150Gramm-Rindersteak oder angestrengte Dresscodes. Es braucht nur etwas Gemüse, Technik und Leidenschaft und dabei steht das TIAN in München der großen Schwester in Wien in nichts nach.
Es lebe das Leben! Es sterbe der Dresscode.
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer