OUKAN - Berliner Fine-Dining-Avantgarde
OUKAN - Berliner Fine-Dining-Avantgarde
Japanisch-veganes Fine Dining ZEN-siert. Für's Wortspiel schäme ich mich etwas, für die Restaurantauswahl keineswegs.
Der Ort
Bisschen koksnäsig wirkt die Mitte Berlins hier neben Galerien und durchgestyltem Einzelhandel, als ich durch die unscheinbare Toreinfahrt in die Entrücktheit der Ackerstraße 144 radel‘. Unsicherheit überwiegt, ob dieser kleine Innenhof mit seinen schwarzen Holzverschlägen und der wenig auf Verweildauer setzenden Rückansichts-Nonchalance ein Beweis für meine fehlende Navigationsbegabung ist oder mich tatsächlich zur aktuellen Krönung der Berliner Fine-Dining-Avantgarde führt. Die untergejubelte Krone steckt nicht nur im Namen des Oukan und verweist majestätisch auf das Haupt des Kaisers, auch wir brechen uns keinen Zacken aus selbiger, wenn wir uns auf einen ausschließlich japanisch-veganen Abend bei Martin Müller et al. einlassen.
Das Interieur
Durch‘s rote Hintertürchen führt uns ein langer, schwarz verspiegelter Flur in ein sichtbetoniertes Lounge-Ensemble. Hier werfen uns Spiegelelemente auf uns selbst zurück und regen im Sinne des Designers zur Selbstreflexion an. Die Kontaktaufnahme mit sich selbst muss nicht unbeschützt absolviert werden, denn die japanischen Tonziegel, die über unseren Köpfen taumeln, gehören traditionell zum Schutzkonzept des Hinterhofjuwels. Angenehm durchdacht hat Architekt und einer der Geschäftsführer Huy Thong Tran Mai Letzteres und knüpft designtechnisch an frühere Projekte wie das Ryong an.
Tran Mais Brutalminimalismus zeigt sich ausgesprochen majestätisch, als wir den Restaurantbereich des Sichtbetontempels betreten. In dem ehemaligen Ballhaus empfängt uns unter eindrucksvoller Deckenhöhe ein 18-jähriger Bonsai. Feste Wurzeln und Lebensenergie symbolisiert der 3 Meter hohe Fotosynthese-Meister und wird entsprechend demütig mit extra für ihn angebrachten Tageslichtstrahlern behelligt. Ein großer Community-Table lädt mittig platziert zu Geselligkeit ein und wird von cleanen Zweiertischen flankiert. Weiter hinten im Raum finden sich intime Separées, in denen sich bis zu 6 Personen umkordelt von akustisch abgrenzenden Seilen zusammenkuscheln können. Wir dürfen besonders nischig in der Krone (da ist sie wieder!) des Gastraums Platz nehmen. Die Kronenform des Zwischenwände-Ensembles offenbart sich erst in der Draufsicht des Bauplans und findet somit als Symbol des Lokals ihre unsichtbare Verlängerung in der Architektur.
Wer sich nicht zurückhalten kann, alles, was an Texturen geboten wird, haptisch zu erforschen, wird sich an den angenehm kühlen, schwarzen Granitplatten bereits wund gestreichelt und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit rußige Finger an den geflämmten Holzpanelen geholt haben, die von goldenen Metallstreben gerahmt die Wände der „Krone“ verkleiden. Wer auf die Idee kommt, einen der aus Japan importierten Eichenholzstühle zu entführen, wird aufgrund des eindrucksvollen Gewichts den Heimweg unmöbliert antreten müssen (Interior-Lovers hassen diesen Trick!).
Die Verpflegung
Vorgestellt hatte ich mir einen Steingutteller mit roher Ur-Möhre, an der dann produktzentriert gemümmelt werden soll, bis die meditative Gleichschaltung erleuchteter Gehirnwellen erreicht ist. Statt asketischer Tempelküche überrascht mich eindrucksvoller Pomp in den Gängen. Die Harmonisierung des Geistes und des Körpergefühls funktioniert zwar ohne tierische Produkte, ohne Industriezucker und Weizenmehl sowie saisonal-regional, aber asketisch präsentiert sich hier keiner der Teller. Lediglich die Regeln der japanischen Shōjin Ryōri-Tradition mit ihren fünf Farben (weiß, schwarz, rot, grün und gelb müssen sich im Menü wiederfinden), den fünf Geschmacksrichtungen und den fünf Zubereitungsarten, die von roh über gedämpft, geschmort, gekocht bis hin zu gebraten changieren, werden von Küchendirektor Martin Müller im Menü berücksichtigt und von Zen-Mönchen, mit denen das Team zusammenarbeitet, abgenickt.
Auch der Trend zur alkoholfreien Getränkebegleitung wird in Form eines Tea-Pairings virtuos umgesetzt. Zur Verantwortung gezogen werden kann hierfür Tee-Sommelière Joyce von Beuningen, die jeden Gang mit bedächtig ausgewählten Teevariationen durchkuratiert. Sie eröffnet nicht nur Tee-Geeks wie mir, die gerne mal ein Monatsgehalt für Premium-Tees aus China und Japan verbrühen, eine vielfältige Welt aus unterschiedlichen Sorten, Reifungsstadien und Röststufen. Darunter sind alte Oolong-Tees, die ihre komplexe Aromatik ähnlich wie bei Wein erst mit zunehmenden Reifestadien erlangen oder Grüntees verschiedener Röststufen, die dann wiederum ganz unterschiedliche Wirkung auf den Körper haben. Die Mehrzahl der Tees wird dabei kalt aufgegossen und im hohen Sektglas serviert, an dem wir asthmatisch herumröcheln. Das filigrane Nosing-Erlebnis serviert den Präventiv-Appetit zum Blick auf die Menü-Karte. Die plaudert zwar allerlei saisonal Vertrautes aus, aber versäumt nicht, die japanischen Elemente charakterfest auf Tellern und im Abend zu verankern.
Yuzu-Spargel als Vorturner
So auch beim jahreszeitlich bedingten Spargel, der interessanterweise auf den Grill geworfen wurde. Auf der knackigen Spargelstange turnt japan-typisch Yuzu-Gel in Klecksen und macht hier anständig Zitrus-Rabatz. Intensive Salz-Zitronenzesten, zarte Shiso-Kresse und gerösteter Sesam komplettieren das zarte Ackergewächs. Dazu tunken wir ungebremst in Shisoblätter, die wie eine mexikanische Mole auf Sojabohnenbasis angemixt wurden. Weißer Tee aus China, der an Dill und Thymian erinnert, friend-zoned sich hierbei subtil an das Gericht heran. Solide Sommerausbeute bislang.
Dashi-Aubergine als kulinarische Weltliteratur
Ich bin nicht unentrüstet über die Buchweizenbrause, die sich im Gewand eines perligen Champagners zum nächsten Gang ins Glas mogelt. Olfaktorisch gaukelt sie buttriges Karamell-Popcorn vor, beim Trinken präsentiert sie sich dann allerdings kräuterig-erfrischend und abgängig wiederum nach Buchweizen schmeckend. Irgendwie frech, irgendwie sehr, sehr gut finden wir das! Die Aubergine zum Glas wurde gewürzt, kurz anfrittiert und dann in einem Superlativ-Sud japanischer Würzsoße mit Mirin, Miso und Dashi versenkt. Nachdem sie dort einen Tag souverän vergessen wurde, folgte die Dehydrierung, die sie das Wasser loswerden, dafür den Geschmack intensivieren ließ. Zwischen blanchierter Edamame aus dem Dashi-Fond und knackiger Erbsenkresse versetzt uns eine Paste aus Yuzu-Schalen und grüner Chili in große Euphorie.
Prachtkartoffel als Signature-Dish
Im nächsten Gang werden die Kontraste hochgefahren. Die adrett drapierte Kartoffel wurde zunächst in Scheiben geschnitten, bei unterschiedlicher Temperatur doppelt frittiert und erneut mehrlagig (innen weich und außen kross) zusammen gebaut, wobei mich das Crunch-Level über eine Zahnzusatzversicherung nachdenken lässt, dabei aber gehörig fetzt. Zungenschnalzgeräusche gibt es von uns ferner für die pikante Trüffelmayo auf Sojabasis, die von Buchenpilzen, Zwiebeln & Trüffeln abgerundet und von der japanischen Gewürzmischung Shichimi verschärft wird.
Die komplexe Vollmundigkeit, die traditionell der Rotwein zum Hauptgang herstellt, wird souverän vom gerösteten Tee eingelöst. Der drei Jahre gelagerte Grün-Tee verbindet Umami und subtilen Rauch mit holziger Süße und verlängert die Herzhaftigkeit der Premiumkartoffel äußerst clever.
Zum ersten Mal an diesem Abend bekommen wir warmen Tee, den wir aus sexy Tee-Keramik selbst einschenken dürfen. Wer an dieser Stelle mit dem Gedanken jongliert, Teezubehör beherzt zu entwenden, dem sei gesagt, dass die Mini-Dependance – das Oukan Tea - besagte Teeausrüstung tagsüber ganz legal verkauft. Wer nicht gern an Keramik herum nagt, kann überdies vegane Miniatur-Häppchen in Form von Matcha Cookies oder herzhafteren Reisschalen in dem kleinen japanischen Teehaus nebenan erwerben.
Dauerwellen-Pilz als frittiertes Badeschwamm-Imitat
Im Anschlussteller wurde die krause Glucke, die als Badeschwamm-Imitat gern mal auf Nadelbaumstümpfen in heimischen Wäldern residiert, virtuos hochfrisiert. Am Tisch wird sie leicht mafiös aus ihrer Räucherglocke befreit. Als sich der Nebel legt, zeigt sich das zwei Monate in Soja eingelegte und anschließend durchfrittierte Pilzgeflecht, das aufgrund von Rauchnote und Umami-Hochform wie krosser Bacon schmeckt. Dazu zwei Pürees aus geröstetem Blumenkohl und Kürbis, der die Rauchnote temperamentvoll aufnimmt. Flottes Gericht und unser Abschied vom Umami-Modul des Abends.
Unsterblichkeitstee als Finish
Der Unsterblichkeitstee aus China feiert zum Dessert eine geschmackliche Abschlussparty, die die Komplexität des Menüs charmant abbindet. Hier verschwestern sich Bitterkeit mit Umami-Noten und fruchtiger Süße zu einem epischen Verteiler-Schnaps-Ersatz. Probieren dürfen wir dazu sowohl das Dessert aus dem 3-Gang-Menü, das getarnt als weißes Schokoladenmousse einen erfrischenden Kern aus Yuzu und Gelber Bete beherbergt, als auch das Rhabarber-Granit aus der 7-Gang-Abfolge, das mit Jasmintee und veganer Sahne unsere Lobhudeleien selbstbewusst auffädelt. Beide Desserts ziehen mit getopptem Kichererbsen-Baisir einen knusprigen Schlussstrich.
Das letzte Wort
Martin Müller tischt hier auf dem kurzen Dienstweg eine charakterfeste Küche auf, die fernab vom Pullunder-Fine-Dining die Grenzen japanischer Tempelkost erfrischend undogmatisch hinausschiebt. Das ausdifferenzierte und dabei angenehm promillelose Tea-Pairing sei auffällig nebenbei erwähnt und ebenso eindringlich empfohlen.
Gegensatzpaare sind es, die diesen Abend und die geschichtsträchtige Ackerstraße geformt haben. Hier trifft Armutshistorie auf Berlin-Mitte-Eleganz und AEG-Arbeiter*innengeschichte auf Abriss- und Erbauungsmanöver im ehemals größten Sanierungsgebiet Europas. Neben alten Stadtmauern verlief hier auch DIE Mauer. Begrenzen lässt sich der 36-jährige Küchendirektor allerdings nicht, aber wie es die Geschichte will, setzt er mit dem Oukan einen buddhistisch-meditativen Kontrapunkt zum Hipsterismus-Gewusel der Gegend und entlässt uns angenehm ausgelevelt und durchaus teil-erleuchtet in die Sommernacht.
Oukan
Ackerstraße 144
10115 Berlin
3 Gänge 49
7 Gänge 89
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer, Juni 2022