Marco Müller Rutz, Berlin - Eine kleine Zeitreise
Marco Müller Rutz, Berlin - Eine kleine Zeitreise
Eine Entwicklung in drei Akten.
Der erste Stern
Es war einmal im Jahr 2007, als ein Koch in Berlin mit einem Michelinstern ausgezeichnet wurde. Tatsächlich wird ja kein Koch mit Sternen honoriert, sondern ein Restaurant, wobei zweifellos der Chefkoch die wesentliche Rolle spielt. Der Koch war Marco Müller, das Restaurant nannte sich Rutz und nennt sich auch heute noch so.
Die Jahre gingen ins Land und es begab sich im Jahr 2012, dass ich endlich den Weg in das Restaurant Rutz fand. Dort traf ich nicht nur auf einen der schillerndsten Sommeliers von Berlin, Billy Wagner sondern auch auf einen überaus engagierten Marco Müller, der sich die Zeit nahm Konzept und Menü mit dem Gast zu besprechen.
Die Idee Müllers war es, um eine Hauptkomponente zwei Gerichte zu entwickeln. Eine klassische und eine sogenannte moderne Kreation. Aus einer „Inspiration“ wurden zwei „Erlebnisse“.
Ein Beispiel aus meinem Bericht vom 16. Mai 2012 (https://www.bsteinmann-gourmet-unterwegs.de/rutz/):
„Grüner und weißer Spargel flankierten eine herrliche Jakobsmuschel & grüne Oliven sowie Mairübe, eine Verwandte des Teltower Rübchens. Bis hierhin klassisch, weniger spannend, doch mit der wohlschmeckenden Fenchelsauce bekam der Gang einen überraschenden und gehaltvollen Kick. Die dehydrierten Jakobsmuschelchips, geschmacklich eher zurückhaltend, milderten den etwas biederen Gesamteindruck.
Der nächste Spargelgang wurde als „Spanferkel & Parmesan, Waldmeister“ annociert. Das Spanferkelkotelett war fein und würzig, die Sauce schmackhaft und reichlich. Dazu gab es Spargelragout, eine wunderbar knackig und bissfeste Stange Spargel und junge Bohnen.“
2012 hatte ich das Konzept mit leichter Skepsis betrachtet. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verschwand diese und heute bin ich begeistert, wenn ich daran zurückdenke. Müller hatte einen Plan, das war deutlich geworden und dem Michelin war dieser ein Stern wert.
Der zweite Stern
2016 wurde das Restaurant mit dem zweiten Michelinstern ausgezeichnet. Die zwei Erlebnisse pro Inspiration waren Geschichte. Die Gerichte wurden teilweise kleiner, die aromatische Opulenz war jedoch geblieben.
Ein Beispiel:
„Kohlrabi & Schulter, sauer-salzig, Feuer & Molke
Die Schulter vom Duroc-Schwein wird zum Kohlrabibegleiter degradiert. Dies ist natürlich durchaus gewünscht. Das sehr deutsche Gemüse bildet die Hauptkomponente dieses Ganges. Es kommt als Püree, geschmort, gedünstet und roh mariniert auf den Tisch.
Auch hat es einen Grund, dass ich das Gemüse als „sehr deutsch“ bezeichnet habe. In anderen Ländern spielt es in der Küche keine wesentliche Rolle. Engländer, Japaner und Russen haben noch nicht einmal einen eigenen Namen dafür. Eine Estragon-Limettensauce und Estragonpulver kommen ebenfalls zum Einsatz. Ein ausgewogenes Geschmacksbild.“
So steht es in meinen bisher unveröffentlichten Notizen. Kreativität und Handwerk stimmten jedenfalls. Beim Service war noch Luft nach oben. Billy Wagner hatte das Restaurant verlassen und der Posten war, meiner Meinung nach, unvollkommen ersetzt.
Der dritte Stern
2020 gibt es ein neues Bild zu bestaunen. Die Michelingala wurde wegen der Coronakrise abgesagt, die Sternevergabe erfolgte über einen Stream via Facebook und das Restaurant Rutz wurde mit drei Michelinsternen geehrt.
Erstaunen, Freude und bestimmt mancherorts auch Zweifel waren die erwartbaren Reaktionen. Und bevor sich alle von den Kreativkünsten Müllers überzeugen konnten, war das Restaurant auch schon geschlossen. Das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) musste dafür herhalten, ein ganzes Land lahmzulegen. In den folgenden Wochen und Monaten fand man in EU-Europa ein Füllhorn mit Reichtum, Überfluss und Freigiebigkeit, welches demnächst über alle ausgeschüttet wird und auch den Restaurants das Überleben leichter machen soll.
Mittlerweile habe ich binnen kürzester Zeit den dritten Rutzbesuch hinter mich gebracht und ich habe längst noch nicht genug davon. Dabei gleite ich mit stetiger Skepsis durch den Abend. Während meine Frau uneingeschränkt für das Rutz plädiert, schweife ich im Schnelldurchgang durch die vielen Dreisternerestaurants, die ich schon besucht habe. Das führt zu kuriosen Vergleichen. Oftmals glaube ich, etwas zu vermissen. Doch immer wieder begeistern mich die kreativen Ideen Müllers, das handwerkliche Geschick der Küche und die Balance der Gerichte.
Garum Ochsenherztomate aus dem aktuellen Menü.
Über die Jahre beobachtet, erkennt man den Entwicklungsprozess. Die gängigen Restaurantführer haben nur allmählich das Potenzial erkannt. Müller kocht nicht für Kritiker. Bei all den Erklärungen und Hinweisen auf die Herkunft der Produkte, den Anbau, die Aufzucht und manchmal auch den berühmten Tipp mit dem Uhrzeigersinn, muss sich jeder die Geschmackswelten selbst erschließen.
Ein wichtiger Faktor bei Müller ist natürlich die Regionalität. Ich habe das nie für einen Selbstzweck gehalten und auch nie allein aus modischen Gesichtspunkten betrachtet. Wer für ein Essen 220 € aufruft, muss etwas bieten, das inkludierte Wasser wird dabei nicht den Ausschlag geben. Das Chicoreeschiffchen mit Joghurtdip, das ich so gerne bemühe, reicht hier nicht aus. Regionalität war immer Bestandteil der gehobenen Gastronomie, wenn der Focus auch eher auf den Luxusprodukten lag und die Region Beiwerk lieferte. Hinzu kommt, dass die „Region“ sehr unterschiedlich interpretiert wird. Sie sind gerne eingeladen, sich mit den Begriffen Homogenitätskriterium und Funktionalitätskriterium etwas näher auseinanderzusetzen.
Zum besseren Verständnis möchte ich das nachfolgende Gericht aus der aktuellen Karte näher beschreiben.
Kohlrabi, Molke und Johannisbeere/ Haselnuss und Brot
Das klingt so interessant wie nichtssagend. Entscheidend ist, was sich hinter der Aufzählung der Bestandteile tatsächlich verbirgt. Es kommt nun mal auf die Zubereitung an. Das Gericht besteht aus zwei Teilen. Das ist noch leicht zu erkennen. Für die nachfolgende Beschreibung gebe ich keine Garantie für Vollständigkeit.
Wir erhalten Kohlrabi, welcher mit Kohlrabisaft mariniert wurde. Die beiden kleinen runden Scheiben (kann man diese erkennen?) wurden in Milchsäure vergoren. Hinzu kommt eine Austernemulsioncreme und Gel von Kohlrabi, Wasserkresse, eingelegte Buchenstiele (?), Salzlake und eine grandiose Vinaigrette aus Kräutern auf einer Meerrettichbasis.
Beim zweiten Teil wurde der Kohlrabi in Salzlake eingelegt und anschließend mit Butter in der Pfanne angegeröstet.
Eine schwarze Trüffelcreme peppt das Gericht auf und die gerösteten Haselnüsse sowie eine Haselnusscreme verfeinern das Ganze. Der Chip besteht, wenn ich das richtig verstanden habe, aus fermentiertem Brotmiso auf Basis eines Krustenbrotes. Et voilà !
Müllers Küche ist zukunftsweisend. Seine Verbundenheit mit der Region ist nachhaltig aber nicht spaßbefreit. Die Weiterentwicklung des Menüs erfolgt behutsam und allmählich.
Sind Köche nun versucht Müllers Küche zu übernehmen und ebenfalls diesen Stil zu präsentieren? Einige vielleicht. Doch rede ich noch immer der Vielfalt das Wort. Es gibt so viele gute Küchenstile und Richtungen, die es beizubehalten gilt.
Vielleicht noch ein Wort zu Nancy Großmann.
Wein ist ein Genussmittel und es reicht nicht aus, stets den zum Gericht passenden Wein zu finden, er muss auch schmecken. Dieser Spagat gelingt der Sommeliere bestens. Jede Flasche hat zudem ihre eigene Geschichte und Nancy Großmann scheint alle zu kennen. Mit ihr hat das Restaurant Rutz eine Drei-Sterne-Sommeliere.
Der Service insgesamt ist erfreulich ungezwungen und engagiert.
Bernhard Steinmann
www.bsteinmann-gourmet-unterwegs.de
Fotos © Bernhard Steinmann