Im Sagrantino 136 (Berlin-Mitte)
Im Sagrantino 136 (Berlin-Mitte)
Lima plus Roma mal Berlin.
„Und warum hängen hier so viele nackte Frauen?"
„Weißt du, hier bekommen Gäste nicht, was sie erwarten.“
Schluck Negroni, ich nicke und lerne.
Das Sagrantino136 könnte auf den ersten Blick beinahe unter rustikal-italienischen Klischeeverdacht fallen, unter dem ein energisch gestikulierender jugoslawischer Servicemitarbeiter mit tragisch nachgeahmtem Italo-Dialekt etwas zu obertonlastig Romina-Power-Songs hinter der schlierigen Antipasti-Theke krächzt. Man erwartet rot-weiß-karierte Tischdecken, ein Schälchen grüner Oliven mit Zahnstochern (warum eigentlich immer Zahnstocher?) und ein Potpourri an weiteren beiläufigen Geschmacksirritationen, während man die unbequemen Stühle höflich weglächelt. Sie wissen schon, so ein Lokal, in das Leute gehen, die sich mit „Tschüsselbein“ verabschieden.
Stattdessen erreicht uns ein Apéro – Dreigestirn aus fein gearbeitetem Rote-Beete-Meringue mit Zitronengel, einem krachenden Cornett mit schwarzem Trüffel und dem Rindertartar-Gnocco Fritto – der traditionell frittiert und crunchig im Mund zerfallend schon einmal die kulinarischen Koordinaten des Abends absteckt. Dazu wird man von einem Negroni geistig aufpoliert, der in benachbarten Hipsterbars wohlmöglich nur unter der Theke gehandelt würde. Zuständig für den ist Cincia Prataviera, die zusammen mit Matias Diaz Silva und einem kleinen Team den kleinen pubertierenden Bruder des Sagrantino in der Behrenstraße aufzieht.
Das Gegensatzpaar ist wach und angeknipst und hatte so viel vor in den ersten 8 Monaten. Die Zeit der einsetzenden Geschlechtsreife sollte mit DJ-Events, Kooperationen mit Bars und Vernissagen der zweimonatlich wechselnden Künstler*innen, die sich adoleszent an den Wänden austoben dürfen, zelebriert werden. Und das sind nur einige der Ideen, die den kleinen italienisch-peruanischen Fusions-Racker kreativ ins Erwachsenenleben befördern sollten und ihn auch post-pandemisch nicht im bedeutungslosen Mittelmaß verkümmern lassen werden. „Wir sind hier alle etwas verrückt“, verrät Küchenchef Matias, der sich zuvor im Hugos als Chef de Partie etabliert hatte. "Nicht weniger sympathisch" ergänzt meine Großhirnrinde.
Da kommt auch schon die Vorspeise, wegen der wir wiedergekommen sind. Ceviche-Fans bekommen hier allerdings kein Ceviche. „Ich habe so großen Respekt vor diesem Gericht und werde es nie auf die Karte nehmen. Wenn du richtiges Ceviche essen willst, isst du das bei meiner Oma in Peru!“ Das steht wohl so auch in der Bundescevicheverordnung. Ich untersuche den in Fischfond schwimmenden und mit Zitrone, Koriander und Tigermilch marinierten Adlerfisch, der auf schmelziger Süßkartoffelcreme gebettet und mit knusprigen Flakes der Nachtschattenknolle optisch aufgetuned ist. Wir einigen uns darauf, dass dieser Gang lediglich ein Zitat von Matias‘ heiligen Kindheitsgerichten ist, würden es niemals Ceviche nennen und erfreuen uns an der technisch präzisen Herausarbeitung des Gangs.
Die Antwort auf die Säure des Adlerfisches kommt in Form eines Perlhuhns mit Wildreis, das von Parmesan-Espuma in seiner Ají-Amarillo – Schärfe (die gelbe Signature-Chili Perus) besänftigt und mit Eiweißperlen, getrockneten Olivenspänen und essbaren Blüten aufgehübscht wurde. Schöner Teller, fast zu spärlich, aber es muss ja noch Platz für die ölig-schweren önologischen Besonderheiten aus der norditalienischen Umbrien-Region bleiben. Die helfen in ihrer Sagrantino-Dichte bei Gesprächen über Unfertiges und Vollkommenes, über Schwergewichtiges und Nebensächlichkeiten.
Letztere kann man durch die bodentiefen Fenster des kleinen Lokals beobachten. Bei misanthroper Veranlagung könnte man Radfahrern zusehen, die auf ihren feingliedrigen 70er-Jahre-Rennrädern, die auf das erfrischend dynamische Wesen des in Mitte und der Werbebranche arbeitenden Fahrers verweisen sollen, in die Tramgleise geraten (Christian Lindner gefällt das! Nee. Moment. Christian Lindner war das!). Wer Menschen mag, kann sie sich aber auch in schwarz-weiß und nackt an den Wänden erhängt anschauen. „Last Days of Summer“ heißen die Photographien von Christian M. Thomas, die im Rahmen der aktuellen Ausstellung bestaunt werden können. Rotwein ist in jedwedem Fall zur Genüge da.
Kommen wir zum Dessert: die Erotisierung der Ohnmacht. Vielleicht gilt das nicht für alle, aber ich für meinen Teil verliere Beherrschung und Unschuld, sobald Tonkabohnen involviert sind. Als Biscuit-Plättchen und in Form eines zarten Schaums ruft sie große Zärtlichkeiten hervor. Sie bleibt allerdings nicht die einzige Amazonastochter in der Nachspeise, denn das Gold der Inkas, die Lúcuma, kommt ebenfalls jedoch als Mousse in europäischer Liaison mit der Erdbeere vor. Ein nicht zu süßer, aber intensiver Abschluss, der wie alles im Rahmen des Menüs ziemlich sterneambitioniert daherkommt.
Wir würden uns gern noch bis spät in die Nacht mit Cincia und Matias über Peru, Wein und ihre Ideen unterhalten, müssen jetzt aber zügig los, bevor es negronibedingt noch mehr nackte Frauen im Sagrantino136 gibt.
SAGRANTINO 136
Linienstraße 136
10115 Berlin
Tel: 030 - 27 90 96 83
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer