Ilona Scholl, Max Strohe und das Tulus Lotrek
Ilona Scholl, Max Strohe und das Tulus Lotrek
Spraydose regelt, was Bitchmove snitcht.
Derart wird zumindest zwischen Hasenheide und Urbanstraße auf eine weggeräuberte Auszeichnungsplakette reagiert. Unter dem mit hochpigmentiertem Nitro-Kombinationslack ersetzten Michelinstern in Bluthochdruck-Rot wurde ein „2023“ auf die pittoreske Efeu-umrankte Altbaufassade gekrakelt, was die bereits 2017 eroberte Ehrenbezeigung beurkundet.
Sogar im Angesicht von Straftatbeständen beweisen die beiden geschäftsführenden Schmierfinken Flexibilität und aktenkundige Street-Credibility - wie es sich für Quereinsteigende gehört. Weder Restaurantleitung Ilona Scholl noch Küchenchef Max Strohe, ihr Homeboy in Selbstjustiz, Teller-Game und Privatgemächern, gerieten auf tradiertem Weg in die Spitzen-Gastronomie. Beide kassierten jedoch schon ein Bundesverdienstkreuz für die pandemiebegründete Aktion „Kochen für Helden“, auf die selbige Aufschrift auf dem Fenster des Erdgeschosslokals verweist. Die Initiative erwies sich als Destillat zugewandter Fürsorglichkeit für die Frontliner auf dem Corona-Gefechtsfeld, die nicht nur durch Gratisgerichte aus den Tulus-Lotrek-Vorräten versorgt wurden, sondern auch durch Kühlhausplünderungen angestachelter Kolleg*innen.
Liebe Leute!
Mit ähnlich zärtlicher Zupackmentalität wartet die Service-Brigade auf: Eingestellt wird nicht nur nach Kompetenz, sondern vor allem nach Liebreizfaktor. Raumgebende Hierarchien bestimmen die Energie im Team der Lotrekkies, die mit ihren tapetenidentischen Tulus-Trikotagen den Anschein erwecken, Wohlfühlbeauftragte wurden dieserorts wie lukullische Fabelwesen liebevoll aus dem Gemäuer gespuckt. Der Kollektiv-Esprit verortet sich irgendwo zwischen Bällebadbegeisterung für Branchenwissen und Chest-Bump-freier Unaufdringlichkeit.
Allen voran schnippst sich Ilona Scholls Silhouette durch den Gastraum und bildet das Metronom des Abends. Scholl flirtet, federt flummi-esk und filetiert Gänge und Weine verbal bis ins Mark, während sie Melodiefragmente aus den wohltemperierten Lautsprechern sonor mitsummend umkurvt und dabei galant auch noch die Tische. Der Heterogenität im Gastraum begegnet sie hinreichend ausgepolstert mit geistiger Elastizität und treffsicherem Register; und das stets ohne Selbstgefälligkeit oder auswendig gelernter Kellner-Kalauer: Behaglich bettwarme Service-Erotik, die nicht ohne Grund sowohl im Jahr 2017 von den Berliner Meisterköchen als auch 2021 vom Gault Millau in Form der Gastgeberin des Jahres durchgeadelt wurde.
Der Austragungsort
Fehlende Großspurigkeit findet sich gleichsam in den Räumlichkeiten der Sterne-Spelunke, auf die in der Fichtestraße 24 lediglich ein altersschwacher Schaukasten mit dezentem Impressum und draufgepapptem „Außenwerbung-nervt-jeden“-Aufkleber verweist.
Im Inneren empfängt mich die kuschelige Bohѐme-Variante einer German-Gemütlichkeit-Schankwirtschaft mit deftigem Dielenboden und rustikalen Fellen über der unprätentiösen Holzbestuhlung.
Erst mit zunehmender Annäherung erkenne ich, dass die Namen der Gäste schönschriftig mit Kreide auf die Holztische gemalt wurden.
Verzückter Oxytocin-Ausstoß auch beim Schielen auf’s Menükärtchen, das stilecht mit Tulus-Lotrek-Siegel auf dem personalisierten Kuvert an den Platz flattert. Ich notiere: Niedlichkeitsfaktor 10/10 und entscheide mich für das vegetarische Menü mit alkoholfreier Begleitung.
Die Verpflegung
Man hätte ja schon bei den Aperos tiefenpsychologisch ausdeuten können, dass hier nicht sanftmütig durch den Abend geschmust wird. Nämlich genau in dem Moment als der Rote-Bete-Macaron mit knalligem Himbeer-Gelee lediglich den Frucht-Teppich ausrollte, um die Sprengkraft des Tapioka-Chips mit seiner protzigen Dashi-Garnele zu hofieren. Kühn für so einen herkömmlichen Donnerstag, Strohe!
Die persönliche Zurückhaltung eines Max Strohe schafft sich ebenso in der Vorspeise in Form fehlender Impulskontrolle seinen Ausgleich. Was als erfrischendes Vielerlei der Tomate beginnt, schreitet abgebrüht mit unscheinbar wirkenden Crackersticks voran, deren Schärfe sich mit Hauptgangsselbstbewusstsein Richtung Zäpfchen prügelt, und endet aufgebrüht als intensiv- besänftigender Tomatentee. Zugefüttert wird ein Nori-Algen-Cracker mit Wasabi-Wumms, der sich auf der Scoville-Skala vorlaut nach oben drängelt. Für Spektakelverweigerung tritt ein Max Strohe nicht an und ich als Capsaicin-Groupie fühle mich souverän abgespeist.
Nur noch autoritätsergeben zu nicken, gehört eher zu meinen untypischen Kommunikationstechniken, war jedoch aufgrund der kulinarischen Ergriffenheit durch Gänge wie gehäuteter Erbse auf Parmesan-Eierstich oder Kohlrabi mit rigoros runterreduzierter Sauerkraut-Beurre-Blanc kaum bezwingbar.
Entsprechender Lau(s)changriff im Folgeteller: der kohlige Porree-Pfahl auf der Keramik würde ihn an die Holzbohlen im Marseiller Hafen erinnern, verrät mir Max, der wohnlich wollbemützt und beinahe schüchtern in seinen Baggypants an den Tisch geschlurft kommt. Gäste hätten das bei extremer Hitze verbrannte Gemüse auch schon zurückgehen lassen, aber das müsse eben so, konstatiert er in vorauseilendem Ungehorsam.
Der unerwartete Manspreader unter den Gängen war der oftmals einbahnig geglaubte Spargel, der sich zusammen mit umamig eingelegter Morchel und einer Hollandaise aus Amalfizitronen-Miso - ergaunert bei Strohes Fermentationsfreunden aus dem zwangspausierten Merold - traditioneller Tellerlogik und damit seines Sidekick-Images entledigt. Die einzige mehrheitsgesellschaftskompatible Referenz in Anlehnung an das Spiegelei, das man sich nachts um 4Uhr im Suffhunger über jedwedes Impro-Gericht poltert, erreicht mich in Form eines sous-vide gegarten Eigelbs. Das Mindestmaß an Anstand, das Max diesem Teller noch einräumte, ist die Tatsache, dass alles stringent miteinander funktioniert. Im Glas gibt’s eine charmant saftige Riesling-Schummelbrause, die mit ihrer perfekten-aber-wirklich-kurz-vor-Badreiniger Essignote gegen die Herzhaftigkeit des Gangs anmarschiert.
Langsam wird’s sperrig im Torso, aber für die Pavlova – für mich bisweilen ein grundverdächtiges sowie durchbeleidigtes Dessert ohne Vorteile - lockere ich beherzt den Krawattenknoten. Sie präsentiert sich ebenso durchschlagend wie die vorangegangen Kreationen, aber dabei feingesichtig durchgeschliffen: der Meringue-Fluff wird mit Himbeere aufgerüscht und führt mit seiner gnadenlosen Gleichzeitigkeit von Estragon und Limette zu spannungsreichen Ambivalenzen auf dem Lait-Ribot-Buttermilcheis. Geschmacklich dicht bedrängt vom Himbeer-Estragon-Öl avanciert er zu meinem kulinarischen Gral des Abends.
Hier bin ich Mensch, hier hau ich rein
Dann drängelte sich Müdigkeit in den Abend wie der dicke Onkel ins Familienbild und ich habe jetzt hier auch die Tastatur vollgesabbert, deswegen schließe ich kurz:
Max Strohe tischt auf dem kurzen Dienstweg frankophile Flexibilitätsbestrebungen auf; stets mit rüpelhaft ironischer Distanz zu klassisch-französischen Zitaten, aber eben auch ohne aufgescheuchtes Anklammern an trendhaschendes Tempo. Das Tulus Lotrek ist kulinarischer Safe Space für alle, die es sich nicht in daseinswunden Selbstgewissheiten gemütlich machen wollen, sondern offen für deliziöse Außerplanmäßigkeiten sind. Die Aufnahme ins gastronomische Organigramm sei hiermit aufdringlich empfohlen und was mich angeht:
Lotrekkies, ihr dürftet mir ins Essen spucken!
Tulus Lotrek
Fotos, Text © Michaela Bauer
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.