Im Jungbluth - Berlin (Steglitz)
Im Jungbluth - Berlin (Steglitz)
Eine ansteckende Gelassenheit
Hab' im Darknet gelesen, Steglitz würde jetzt kommen! Doch bei all der durch kesse Kunstdrucke angetäuschten Hipness bleibt das Jungbluth ein Restaurant, in dem man getrost eine ältere Steglitzer Dame in Ohnmacht, doch niemals eine vergessene Technoclub-Pfandmarke fallen lassen könnte.
André Sawahn bespielt den Laden mit sympathischer Peripherie-Gelassenheit, während sich sein ehemaliger Compagnon ein Retreat vom Bourdeaux gönnt, den die Beiden in den letzten Jahren zusammen getrunken haben. Vor 13 Jahren begannen er und Felix Leisegang damit, Türen und Fenster von ihren Altlasten und die Teller ihrer 3-Gang-Menüs von eventuellen Kanten abzuschleifen. Damals kam junges Blut in den kulinarisch leicht verschnarchten Bezirk im Berliner Süd-Westen. Erst Jungbluth, dann Vollbluth, mittlerweile eher Ruhigbluth – aber bevor ich in die Flachspruchhölle abbiege, lieber zügig auf die Teller geguckt:
Wir starten mit einem vollmundigen Steckrübensüppchen, das mit Sternanisschaum hochfrisiert wird. Sechs Foodies versuchen, mit Zungen und Fingern Reste aus den Glastöpfchen zu ergaunern und gucken anschließend traurig. Es ist angefüttert!
Wir trösten uns mit Champagner bis zur nächsten Überraschung, ...
... die in Form eines Salats an den Tisch kommt. Salat?
Ich weiß, was Sie jetzt denken. Was den Edelrestaurant-Türmchenbau angeht, sind Sawahns Kreationen vielleicht keine Hochleistungsteller, aber geschmacklich haben sie Suchtcharakter wie ein Glutamat-Brühwürfel. Das Chlorophyll-Geschwader besteht aus knackig-frischem Feldsalat und Rucola, dessen Nussigkeit von samtigen Kürbisspalten ergänzt wird. Letztlich versetzt Ziegenmilchjogurt den vermeintlich profanen Salatteller zusammen mit präzise austarierter Pistazien-Möhren-Vinaigrette in den kulinarischen Ausnahmezustand. Bis das Servicepersonal zum Tellerabtransport antritt, Gabelgekratze bis zur Würdelosigkeit.
Die leeren Teller hatten die gleiche Wirkung wie die Außenfassade von Sawahns Eckladen – innerlich wurde alles grau und traurig. Mit jedem neu servierten Teller stieg der Serotonin-Spiegel wieder und ließ vergessen, dass die Herberge des Restaurants kein architektonischer Initialfunken ist.
So auch bei der Vorspeise, die ohne kompositorische Zwangsläufigkeiten auskommt. André präsentiert seinen konfierten Heilbutt auf einem Bett aus satt abgewürzten Linsen. Anliegend verneigt sich zart angedünsteter Pak Choi lässig über dem marinierten Rettich und der Chip von der Reisnudel findet in der Mundhöhle Verwendung als rummelnder Krachmacher. Der Seebewohner und seine Entourage lagern auf einer überraschenden Senf-Maracuja-Vinaigrette, die den Teller mit graziler Fruchtigkeit abrundet. Auch wenn der Teller optisch unauffällig bleibt, keine Spur von Gewöhnlichkeit.
Vier geschmacklich dicht verpackte Dips werden zum Sauerteigbrot gereicht, unterstützen die Hauptgangsvorfreude und lassen unsere Blicke snackenderweise durch die „Alte Küche“ schweifen, in der wir hochherrschaftlich an einem Einzeltisch platziert wurden. Hier wird zudem die nach Verständigkeit aussehende Whiskyauswahl hinter einer abgeschlossenen Glastür aufbewahrt - meine Tischnachbarin schlägt vor, ihr Schlüsselbund durchzuprobieren. Alle am Tisch drücken die Daumen.
Die Glastür erweist sich als Hochsicherheitstrakt - man merkt die juristische Vorbildung des Küchenchefs. Das Grundstudium in Jura würde zwar bei der Ahndung grundlegender Regeln des guten Benehmens helfen, aber so ganz ohne die rechte Gehirnhälfte hätte sich André Sawahn das Berufsleben nicht vorstellen können. Wenn er in der UV-Strahlen-reichen Jahreszeit mit dem Fahrrad im Jungbluth ankommt, wird die Prenzlauer-Berg-Familienvater-Identität gegen die eines akribischen Handwerkers getauscht.
Im Hauptgang treibt er sie zur Perfektion: die filigran interpretierte Entenbrust wird mit Ingwer-Koriander-Couscous verbesondert und von knackigem Blumenkohl komplettiert. Die gegrillten Pimentos brechen mit ihrer leichten Schärfe und zierlicher Säure die Herzhaftigkeit des auf den Punkt gedämpften Federviehs. Eindeutig wabert die Genetik seiner Küche über dem Teller.
Man hört Sterneköchin und Sawahns Ausbilderin Sonja Frühsammer flüstern: „Iss‘ doch mal den ganzen Teller! Passt das wirklich alles zusammen?“ – denn das sollte das größte Learning für den jungen Küchenchef sein. Bei einem kulinarischen Dreifaltigkeits-Konzept muss eben jeder Gang sitzen.
Das gilt auch für’s gefräßigmachende Dessert: die saftige Tarte de Santiaga wirkt wenig herantastend, er hat sie genau so fest im Griff wie die Mango, die dieser Tage durch Überstrapazierung etwas unter Legitimitätsdruck geraten ist, hier aber als marinierte Variante ideal passt; vor allem in der Kombination mit samtigen Marzipanmousse, das beinahe unerhörten Fluffigkeitsfaktor aufweist und alle übrig gebliebenen low-carb-nach-20Uhr-Pläne jäh durchbricht.
Affirmative Fülllaute wölben durch den Raum, während wir zufrieden an die Holzlehnen heransinken. So dient der Rest der Zeit dem sozialen Austausch und den Absackern. Nachfrageüberhang beim Haselnussschnaps – zur flüssigen Nutella gesellen sich Himbeergeist und Birnenbrand bei den Mittrinker*innen.
Vereint in hedonistischer Genugtuung purzeln wir aus dem Lokal. Draußen ist alles ruhig und die Nacht so dunkel wie die Fenster. So wenig wie das Jungbluth mit seinem Satellitstandort und dem historischen Küchenbüffet zum szenigen Gastro-Hotspot werden wird, so wenig wird Steglitz mit seinen gepflegten Vorgärten, Föhnfrisuren und Nagelhäuten zum hippen Bezirk.
Gutes braucht keine Imagekampagne, aber wir - müde vom Over-Tourism innerhalb des S-Bahn-Rings - zuweilen das Durchatmen in beschaulichen Randbezirken und dazu verabreden wir uns schon einmal für den Sommer auf einer der beiden Außenterrassen des Jungbluths. Dorthin wird der Balance-Bursche hinter'm Herd seine antiautoritären Interpretationen gegen kulinarische Banalität schicken. Das schreibe ich jetzt ins Darknet (Pssst!).
JUNGBLUTH
Lepsiusstraße 63
12163 Berlin
Tel: 030 79 78 96 05
http://jungbluth-restaurant.de
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer