Im "Der Butt" bei Chef André Münch
Im "Der Butt" bei Chef André Münch
In der Yachthafenresidenz Hohe Düne in Rostock-Warnemünde.
Reflexartig ziehe ich mit konsequentem Unterdruck die Wangen ein und bemühe mich hohlwangig bedauernswert auszuschauen, als ich auf dem Gelände der Yachthafenresidenz Hohe Düne André Münch begegne, Chefkoch des Gourmetrestaurants Der Butt. Dorthin bin ich auf dem Weg und werde später die Hunger suggerierende Geste bereuen – ein 4-Gang-Menü bestellt, 10 Gänge genossen. Auf dem Rückweg in die Warnemünder Ferienwohnung werde ich ernsthaft Sorge haben, ob die Fähre - mit mir und den 10 Gängen an Bord - ihren Dienst solide absolvieren wird. Erinnerungssatt gehe ich auf dem Weg über die dunkle Ostsee diesen besonderen Abend durch. So viel Wertschätzung, so bemerkenswert handwerkliches Geschick, so kenntnisreich kreierte Kompositionen. Präventiv den Knopf öffnen und tief in den Bauch lesen:
Ich komme in der obersten Etage des Restaurant-Pavillons direkt im Yachthafen an. Bereits an der Garderobe entsteht ein Eindruck heimischer Gemütlichkeit, als hätte Sternekoch André Münch ins eigene Wohnzimmer eingeladen. Wenige Tische, das Interieur ist elegant und geschmackvoll, nicht prätentiös. Schallgedämpfte Fenster lassen den wild tosenden Sturm draußen, eröffnen dennoch einen behaglichen Panoramablick auf die in abendliches Rot getauchte Ostsee. Wow! Ich werde mit sympathischer Gastlichkeit an einen kleinen Tisch direkt am Fenster geleitet; ein warmes feuchtes Handtuch für die Hände und mein Aperitif lassen nicht lange auf sich warten. Dazu bekannte Popsongs, die leise als Jazzvariante aus den Lautsprechern säuseln. Perfektes Sound-Drink-Pairing. Hier bleib‘ ich.
Ich entscheide mich für das vegetarische 4-Gang-Menü. Das Kombinieren mit Gängen der nicht-vegetarischen Variante ist selbstverständlich möglich. Der erste Gruß aus der Küche wird im maritimen Outfit serviert, ein Leitmotiv, das im Übrigen konsequent bis zum Toilettengang verfolgt wird. Über Lautsprecher wird man nämlich in der stilvoll ausgestatteten Toilette von Shanty-Chor und Matrosenliedern begleitet. Während des Händewaschens ertappe ich mich schmunzelnd beim Mitschunkeln. Zurück zur Kulinarik.
Vorspeise: Rote Beete. Damals bei den Großeltern, eingelegt, vor dem Fernseher, direkt aus dem Glas gabelnd. Der kleinkindgerechte Knabberspaß der zart beginnenden 90er-Jahre. Irgendwie lecker, aber vielleicht war dieser Eindruck auch nur verblendet von der großelterlichen Fürsorglichkeit. Nun also liegt sie wieder vor mir, die rote Beete, so richtig sexy ist sie nicht. Liebevoll kuratiert mit intensiver Gurke, Tapioka, geeistem Sauerrahm und Kresse zischt sie mir ungeduldig entgegen: „Iss‘ mich!“. Noch nie hatte ein Gemüse einen solch blanken Imperativ auf mich gerichtet. Dennoch, sie hatte Recht, diese kulinarisch kühn daherspazierte Beete, die mich mit ihrem feinsinnigem Aroma unmittelbar überzeugte.
Ich schaue zur Familie am Nebentisch, die ebenfalls soeben ihre Vorspeise serviert bekamen: drei Buben, die etwas zerknirscht auf ihre Teller blicken. Einer verzieht heimlich das Gesicht und schaut zum Bruder. Ich glaube, sie wollen lieber einen Burger aus dem nächsten Fast-Food-Restaurant. Damit sich meine Lippen bei diesem Gedanken nicht allzu auffällig kräuseln und mir ein empörter Blick in Richtung der Augenverdreher entgleitet, atme ich kurz durch und denke in einem Anflug pädagogischer Permissivität: „Hm, in eurem Alter hieß mein Lieblingsessen „Kartoffelbrei mit Röstzwiebeln und Croutons“ aus einer Fünf-Minuten-Terrine. Ich lächle besonnen… und folgere, dass alle Großeltern haben sollten, die ihnen rote Beete aus dem Glas in der Kindheit servieren.
Ich lerne im Rahmen des Hauptgangs, dass ein Onsen-Ei seit Jahrhunderten von den Japaner*innen in den heißen Quellen des gleichnamigen Flusses gegart wird. Dabei verbleibt das Ei mindestens eine Stunde in der Thermalquelle. Das langsame Stocken bei ca. 62 Grad geschieht haarscharf unter der thermischen Gerinnungsgrenze für Hühnereiweiß und bekommt erst dadurch eine besonders zarte Struktur. Dazu eine geschäumte Hollandaise, Püree aus Erbsen, geschmacksintensive Kirschtropfen und eindringlich aromatischer Spargel.
Ich bin kurz vor dem kulinarischen Delirium, verwerfe diesen Gedanken allerdings sofort, als das Dessert kommt: Valrhona-Schokolade und Kirsche - einmal als warmes Sößchen und überdies als Sorbet-Variante. Jetzt bin ich im kulinarischen Delirium. Dekadent? Definitiv! Aber das mit einer Warmherzigkeit, die mich zum Abschied alle Mitarbeitenden - vom sympathischen Service-Personal bis zum Küchenchef - umarmen lassen möchte. „Im Sommer komme ich wieder!“ denke ich am nächsten Tag, nehme das Telefon in die Hand und reserviere einen Tisch…
Das war im April 2018. Mittlerweile habe ich zum 6. Mal in meinem liebgewordenen Kleinod fernab der großstädtisch-hektischen Gastro-Szene gegessen. Im Restaurant Der Butt durfte ich mich seither über die gleichbleibende Qualität und einen außerordentlich charmanten Service freuen, den ich in seiner professionell-zurückhaltenden, dennoch stets auf den Punkt agierten Weise bisher in keinem anderen Restaurant erleben durfte.
Die Highlights in den letzten zwei Jahren waren für mich neben dem Signature-Dish-Hummersüppchen und den kreativen Amuses vor allem die Carabinero mit Ananas und ….
... ein Pilz-Consommé, das ein so dichtes Umami-Feuerwerk abschießt, das alles bisher Gegessene beschämend verblassen lässt.
Beim letzten Besuch im Januar 2020 begeisterte mich ein „falscher Apfel“ mit rehydrierten Trauben im Rahmen des Desserts, der aus grüner Schokolade geformt und ein knisterndes Apfelragout in seinem Inneren verbarg.
Das Augenzwinkern lässt sich André Münch bei seinen stets akurat komponierten Kreationen genau so wenig nehmen wie seine ganz besondere Handschrift, die immer erkennbar und dabei stets innovativ bleibt. Hier hat der Guide Michelin definitiv den zweiten Stern vergessen und ich mein Foodie-Herz…
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer