Die junge Bayerische Küche. Eine (Koch)Buch-Rezension

Die junge Bayerische Küche. Eine (Koch)Buch-Rezension
Konzepte und Visionen für die kulinarische Zukunft.

Schwere Kost für leck're Kost
...das ist mein erster Eindruck nach 29 Seiten.
Frisch geliefert wurde es, das neue Buch von Thomas Ruhl, "Die junge bayerische Küche", ich konnte mich natürlich nicht beherrschen und musste schon sofort reinschnuppern.
Wer hinter dem Titel ein einfaches Kochbuch mit aufgepeppten bayerischen Traditionsgerichten vermutet, eine reine Rezeptesammlung, die man erstmal überfliegt und auf den interessantesten Seiten verharrt, liegt vollkommen falsch.
Die ersten Seiten befassen sich, grob zusammengefasst, mit der kulinarischen Geschichte Bayerns. Vor diesem ersten Kapitel liest man aber auch über Entstehung, Geschichte, Hintergrund und Idee hinter dem Projekt "Heinersreuther Hof" bei Kulmbach von der Adalbert-Raps-Stiftung, die auch Mitherausgeberin dieses Buches ist. Hier wird sich u. a. regelmäßig getroffen, um sich fernab der Alltagsroutine über die u. a. kulinarische Zukunft auszutauschen, zu experimentieren und zu forschen. Sehr Interessant!
Auf den folgenden Seiten wird sehr detailliert erklärt und beschrieben, warum es den geschmacklichen Unterschied zwischen Fleisch aus enger Stallhaltung und freier Weidehaltung (wissenschaftlich erwiesen) geben MUSS, wie der Qualitätsunterschied zustandekommt. Auch u. a. über deftige Saucen, Obazda, bayerischen Sake und Käse wird geschrieben, dazu die Ike Jime-Methode bei Fischen erklärt. Viel zu lesen, aber auch sehr interessant, man lernt ja bekanntlich nie aus - nicht nur als Hobbykoch. Ein Text von Prof. Dr. Thomas A. Vilgis.
Kapitel 3 befasst sich nun direkt mit der "neuen bayerischen Küche". In seinen Texten befasst sich der Autor Thomas Ruhl nun mit der Zukunft, wie man die Esskultur Bayerns weiterentwickeln könnte und kann. Ein wichtiger Grundsatz bildet ein Satz, der schon weiter vorne zu lesen ist, "Stillstand bedeutet Rückschritt". Wie könnte die Zukunft der Gastronomie aussehen, welche Erwartungen hat der "moderne Gast"? Verarbeitet man bayerische Produkte avantgardistisch, verarbeitet man internationale Produkte im bayerischen Stil, oder wie geht man der Zukunft kulinarisch und gastronomisch entgegen? Unterschiedliche, sehr interessante Ansätze werden verglichen.
In den Folgenden Kapiteln liest man über die Zusammenarbeit von Produzenten und Spitzenköchen, lernt kooperierende Höfe und Hersteller etwas kennen und liest natürlich auch über die Köche, die dem Buch dann auch jeweils einige Rezepte spendiert haben.
Den Anfang macht Alexander Huber vom "Huberwirt" in Pleiskirchen. Schon gleich das erste Rezept im Buch - man findet es erst auf Seite 48 - macht Lust, nachgekocht zu werden: "Poltinger Lamm - Rücken & Spare Rib, gefüllte Tomate, Biertreiber Spargel, schwarzer Knoblauch" - klingt lecker, sieht lecker aus! Aber auch aus weiteren Leckereien kann man wählen.
Der nächste Spitzenkoch in der Reihe ist Tobias Bätz, Küchenchef im Restaurant AH by Tobias Bätz in Herrmanns Posthotel in Wirsberg. Und hier ereignet sich eine private Premiere, und zwar dass ich BEVOR ich ein Kochbuch habe, ein Rezept daraus bereits zubereitet zu haben. Es handelt sich um den "gereiften Wollschweinnacken, Haselnusscreme, Sherrygel, sauer eingelegten Erbsen, Morcheln mit Lardo gebraten", und hierbei kann ich jetzt schon sagen, es klingt nicht nur gut, sondern ist mit leichten Einschränkungen auch in der Hobbyküche umsetzbar und schmeckt unglaublich lecker! Das Rezept hat Herr Bätz kürzlich auch für die Rezepterubrik des Großen Guide freigegeben, der ich es entnommen und nachgekocht habe.
Aber auch z. B. das Rezept "Lackierter Sellerie, Ziegenfrischkäse, Wildkräuter" regt zum Nachkochen an.
Nach einem Kurzausflug zu Alexander Herrmann geht's zu einem Weiteren seiner Chefköche, Michael Seitz aus dem Fränk'ness und dem Imperial in Nürnberg. Auch bei seinen Rezepten läuft einem gleich das Wasser im Mund zusammen. "Brotpizza, Räucherlachs, Meerrettichschmand, Himbeeressigglasur, rote Bete, Kürbiskerne, Wildkräuter"... urig, lecker, modern. Herrlich!
Kapitel 5: "Frauen an die Macht". Nach einigen Fakten über die Frau in der Profiküche macht die Tortenmeisterin Carola Deichl mit verführerischen Rezepten wie z. B. die "Apfel-Ingwer-Torte mit Limettenmousse" den Anfang. Lecker!
Die nächste im Bunde ist Diana Burkel, Chefköchin im Würzhaus in Nürnberg mit Rezepten wie z. B. "Waller/Bete/Dill", auch hier wie in allen Rezepten im Buch, klare Anweisungen, um auch diesen Teller zuhause problemlos nachzukochen. So auch bei den fantastischen Rezepten von Maike Menzel, Josef Hartl, Andreas Hillejan, Stefan Fuß, Felix Schneider und dem sympathischen Lucki Maurer, der den Abschluss der Rezepte bildet, mit leckeren Kreationen wie "Tataki vom Wagyu/Senfkaviar/Kutteln/Bratkartoffelfolie/Blaukrautstaub". Einer der großen "Nose to Tail" - Vertreter.
Auf jeden einzelnen dieser tollen Köchinnen und Köche näher einzugehen, würde den Rahmen sprengen. So viele leckere Gerichte auf einmal, und jedes einzelne möchte man gern nachkochen! Auch all die Höfe und Produzenten genauer zu beleuchten ist bei dieser Fülle von Informationen kaum möglich. Kaufen, lesen, begeistert sein!
Dazu gibt es noch einige Seiten von Jürgen Dollase, eine kulinarische Fiktion, wie er sich bayerische Küche und Gastronomie im Jahr 2050 vorstellen könnte.
Und am Ende dieses hochinformativen Buches wird es noch alkoholisch, nämlich mit ein Interview mit Dr. Hermann Kolesch, langjähriger Präsident der Bayrischen Landesanstalt für Weinbau, über fränkischen Wein bzw. "Fluch und Segen der Tradition" und einen Besuch der Bio-Brauerfamilie Ehrensperger, Inhaber der "Neumarkter Lammsbräu". Beide Kapitel sehr lesenswert!
Mein Fazit für dieses ausführliche Buch: einfach mal durchblättern geht nicht. Auch zu behaupten, es gibt zu den Rezepten viel Zusatzmaterial wäre mehr als untertrieben. Es handelt sich hier um ein sehr intensiv und detailliert ausgearbeitetes Sachbuch über bayerische Küche, deren Herkunft und eventuelle Zukunft. Viele sehr schöne moderne Rezepte findet man von vielen renommierten Köch*innen, auch wenn sich ein paar Rezeptfehler eingeschlichen haben.
Mal etwas "leichtere" Rezepte, mal etwas anspruchsvollere, es wird schon auch mal einen Pacojet, Thermomix oder Dampfgarer benötigt, die bilden aber eher die Ausnahme. Und da lassen sich ja immer Notlösungen finden. Alle Rezepte sind im Grundansatz jedenfalls machbar und klar beschrieben. Für viele Zutaten ist es dann aber eben doch von Vorteil, wenn entsprechende Produzenten vor Ort sind, um die Regionalität und Nachhaltigkeit nicht schon beim Einkauf zu unterbinden. Wie wir alle inzwischen gelernt haben, nur mit guten Produkten kann man auch ein perfektes Essen kredenzen. Und viele dieser guten Produkte und deren Produzenten werden in diesem Buch vorgestellt.
Wer ein lockeres Kochbuch mit coolen Rezepten erwartet, sollte sich eher umorientieren. Wer aber tiefer in die Materie, in moderne Konzepte und Visionen für die kulinarische Zukunft (sicher auch nicht nur Bayerns) eintauchen möchte, liegt mit diesem Buch genau richtig. Zugreifen!
Die junge bayerische Küche
29,90€
Autor: Thomas Ruhl + mehrere Gastautoren
Herausgeber: Port Culinaire GmbH, 1. Auflage,1. Februar 2021
256 Seiten