Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950, Hayingen
Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950, Hayingen
Er hat die Welt als Kapitän der Nationalmannschaft der Köche bereist und einem internationalen Publikum in São Paolo oder Mumbai deutsche Spitzenküche nähergebracht. Man könnte sagen, Simon Tress hatte schon immer eine gewisse Botschafter-Rolle inne. Mittlerweile hat er mit seinem Restaurant 1950 Bio-Fine-Dining im idyllischen Alb-Kleinod Hayingen eine Ausnahme-Erscheinung in punkto Regionalität und Nachhaltigkeit in der deutschen Spitzengastronomie erschaffen.
Was sich zunächst nach hyper-Progression anhört ist eigentlich nur die Fortführung des Gedanken seines Großvaters Johannes, welcher bereits seit 1950 in die biodynamische Landwirtschaft eingestiegen ist. Heute befinden wir uns im bisher einzigen Bioland- und Demeter-Restaurant der Welt, welches seine Zutaten zu über 99% aus einem Radius von max. 25 km bezieht. Ein Konzept, welches sicherlich Schule machen kann bzw. wird. Wir haben daher das Restaurant für diesen Bericht im kargen und frostigen Februar besucht und somit auf die härteste aller Proben gestellt.
Dass Tradition und Innovation kein Widerspruch sind, lässt sich derzeit wunderbar auf der Schwäbischen Alb, im beschaulichen Hayingen-Ehestetten, bestaunen. Hier scheint die Welt noch etwas mehr in Ordnung zu sein als anderswo, möchte man meinen. Großzügige Viehweiden, Mischwälder, saftig grüne Wiesen und biodynamische Landwirtschaft bestimmen hier das Bild.
Hier ist der Ort an dem alles vor mehr als 70 Jahren begann, genau genommen im Jahre 1950. Einer der Bio-Pionierbetrieb der Republik und gleichzeitig erstes Restaurant der Tress Gastronomie, das Bio-Restaurant Rose, öffnete hier am Stammsitz seine Pforten. Hier serviert man kreative Fleischküche und moderne vegetarische Gerichte mit regionalen Bio-Zutaten. Mittlerweile bewirtschaftet Familie Tress mehrere Bio-Gastronomien in der Region.
Eben an diesem Schauplatz befindet sich auch das Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950, welches im August 2020 eröffnete und ein absolutes Solitär in seiner Kategorie ist. Wir haben das weltweit einzige Demeter & Bioland-Fine-Dining-Restaurant in der Zwischenzeit sechs Mal besucht.
Simon Tress hat in diesem Restaurant den Grundgedanken seines Großvaters Johannes Tress in ein Gastrokonzept gegossen, wie man es wahrscheinlich auch nur hier erleben kann: Absolute Regionalität der Zutaten aus einem maximalen Radius von 25 km von biodynamischen Erzeugern (außer Salz); Transparenz, indem mit bei jedem Gang die relevanten Erzeuger vorgestellt werden und ein vegetarischer Fokus der Gerichte, da Fleisch lediglich als Beilage (gegen Aufpreis) bestellt werden kann. Sein Menü hat Tress CO2-Menü getauft und sich den Namen auch bereits vor 10 Jahren patentieren lassen. Dies zeigt eindrucksvoll, dass hier nicht spontan einem Trend gefolgt wird, sondern das Konzept das Ergebnis jahrelanger Entwicklung und Überzeugung ist.
Dabei hat diese Einstellung definitiv nichts mit Kleingeistigkeit oder fehlender Weltoffenheit zu tun. Nach seiner Ausbildung zum Koch im Hotel Vier Jahreszeiten in Schluchsee, führte Tress als Teamkapitän der Jugendnationalmannschaft und Mitglied der deutschen Nationalmannschaft der Köche sein Team nach Singapur, Moskau oder Wales. Später servierte er als kulinarischer Botschafter der deutschen Küche in Brasilien. Auch die Heavy Metal-Band Iron Maiden kam bereits in den Genuss von Tress' Küche.
Nun hat er die Welt hinter sich gelassen und sein eigenes Konzept in seiner Heimat umgesetzt. Ein Konzept, das neben einem großen kreativen Reiz und einer ausgesprochenen Nachhaltigkeit auch vermutlich Zweifel bei Gastronomiekollegen und Gästen säen dürfte.
Wir haben daher das Restaurant für diesen Bericht im kargen und frostigen Februar besucht und somit auf die härteste aller Proben gestellt.
Seit kurzem werden die einzelnen Gänge in der Menükarte nur noch mit den zwei vegetarischen Hauptkomponenten tituliert. Das vegetarische Menü wird einheitlich mit 6 Gängen (€ 111,--) angeboten. Fleisch kann bei einigen Gerichten als Beilage gegen Aufpreis hinzugebucht werden. Wir waren schon bei unserem ersten Besuch im Jahr 2020 Fan dieses Konzepts und sind es mittlerweile umso mehr. Für die Weinbegleitung sorgt Restaurantleiter Markus Schäffauer, welcher sympathisch gut gelaunt die Gäste mit Flüssigem und Wissenswerten versorgt. Wir sind (wie immer hier) sehr gespannt was uns in der kalten und kargen Jahreszeit hier erwartet. Los gehts!
Amuse Bouches:
Die Idee mit den Küchengrüßen ein ganzes Menü anzuteasern war uns bisher neu. Simon Tress tut genau dies und serviert Miniaturen seiner Aromenkombinationen vorab. Selbstredend sind die Amuses eigenständige Kleinkreationen. So erreichen fünf kleine Kunstwerke nacheinander unseren Tisch. Allesamt aufwendig gearbeitet und eine wunderbare Einstimmung auf das folgende. Der Hauptgang (Lauch & Kohl) wird im, bereits zum Ritus gewordenen, stilvollen Kartonwürfel serviert, welcher beim Öffnen sowohl die Menükarte, als auch weitere Informationen zum Restaurant und dessen Philosophie bereithält.
Pflaume & Sellerie // Supplement: Rind (+ € 17,50)
Nach der Kurzvorstellung aller Aromenkombinationen, startet das Menü mit dem unkonventionellen Duo Pflaume und Sellerie. Vielleicht ist das ungewöhnliche Pairing auch der Grund für Simon Tress‘ räumliche Trennung auf dem Teller. Auf der linken Seite eine kurz abgeflämmte, Zwetschgen-Zitronengras-Crème Brûlée, Pflaumen-Koriander-Crème und marinierte Pflaumen. Rechts dagegen ein sauer marinierter Staudensellerie-Salat, welcher als Podest für ein Eis aus den Blättern und ein frittiertes Blatt als Topping dient. Das ist nicht nur sehr interessant, sondern schmeckt auch richtig gut, da Süße und Säure elegant austariert sind.
Der Staudensellerie und der dezente Einsatz von Zitronengras (aus dem eigenen Gewächshaus) liefern zudem eine angenehme ätherische Note mit. Die Kontrastierung des leichtfüßigen Gerichtes erfährt dieser Teller mittels des à-part servierten Knollensellerie-Espumas unter welchem sich ein aromatischer und umamireicher Jus aus der Sellerieschale, sowie gebratene Selleriestücke befinden. Wir sind uns sicher, dass sich aus diesen beiden Zutaten nur schwer mehr herausholen lässt. Und für alle die noch Fleisch dazu möchten, bietet das 1950 eine Rindfleisch Kreation (als Supplement + 17,50 €) aus einem Stück, gebratenen Entrecôte mit einem Rinderzungensalat an. Der Auftakt in Simon Tress‘ Winter-Menü sitzt schon mal vorzüglich. Bitte mehr davon.
Topinambur & Rettich
Weiter geht’s mit einem vegetabilen Duo, welches man auch auf den ersten Blick eher weniger auf dem Schirm haben dürfte: Topinambur & Rettich. Auch hier vollzieht Simon Tress eine ähnliche räumliche Trennung, in dem er auf dem Hauptteller ein Potpourri aus verschiedensten Rettich-Zubereitungen präsentiert, welche er mit einem Soulfood-Satellit begleitet. Den Rettich legt er in Essig und Rote-Beete Saft ein, verarbeitet ihn zu einem Püree und fermentiert ihn. Aus den Rettich-Schalen reduziert er eine intensive Soße, welcher er mit Rahm abschmeckt. In der separat servierten Schale befindet sich eine wohlig warme Topinambur-Suppe, welche eine Haube aus Hollandaise bekommen hat, die mit pulverisierten Schalen der Erdartischocke arrondiert wurde. Zwei Teller, zwei Welten, jede für sich super lecker. Tress befördert zwei Wurzelgemüse in Soulfood-Sphären. Beeindruckend und saulecker!
Wirsing & Zwiebel // Supplement: Landgockel (+ € 18,50)
Auf ähnlichem Niveau bewegt sich auch das nächste Gemüse-Duo namens Wirsing & Zwiebel. Hierzu platziert Simon Tress eine Art Wirsing-Praline in der Mitte und umgießt das Ganze mit einer intensiven, süßlichen Röstzwiebel-Jus, welche nahezu nur aus karamellisierten Zwiebeln besteht (!). Die Jus an sich zeigt eindrucksvoll, welche Geschmackstiefe hier möglich ist. Die üppige Proportionierung und wohlig heiße Temperatur sind ein wunderbar winterlich, vegetabiles Vergnügen, wo man wieder kein Fleisch vermissen würde. Doch für alle Skeptiker hat Simon Tress eine passende Karnivor-Beilage entwickelt. In einem kleinen Schälchen gibt es – als Aufpreis-Option - die Brust und ein Innereien-Ragout vom natürlich lokalen Landgockel. Alles in allem hervorragend.
Lauch & Kohl // Supplement: Lamm (+ € 21,50)
Auch im Hauptgang kommen Lauch- und Kohlgewächse zum Einsatz. Das Duo hier heißt: Spitzkohl und Lauch. Auch wenn die Kombination in puncto Eleganz und Finesse alles andere als einfach zu sein scheint, punktet der Gang vor allem mit seiner Diversität an unterschiedlichen Zubereitungen. Die Küche verarbeitet den Lauch zu einem feinsäuerlichen Salat, zieht ein Öl daraus und zu einem grasgrünem Püree verarbeitet. Das Spitzkraut kommt zum einen fermentiert, zu anderen à la crème auf den Teller. Zusätzlich wird ein fantastisch intensiver und dichter Jus auf Basis verkohlten Spitzkohlblätter, was sich kaum erschmecken lässt, am Platz angegossen. So entsteht ein interessantes Süße-Säure-Spiel mit erstaunlich viel Tiefe und verschiedenen Texturen. Wieder ein tolles Beispiel wie Limitierung die Kreativität beflügeln kann. Wer dazu Fleisch möchte, kann Lamm (Rücken, Zunge und eine herrlich zart geschmorte Backe) dazu bestellen. Ein erneut enorm starker und zugleich beeindruckender Gang.
Apfel & Rote Beete
Erdig-Süß-Säuerlich ist der Geschmackshorizont des pre-Desserts, welcher mittels Apfel und Rote Beete erschaffen wird. Im Rote-Beete-Schälchen vereint Tress milde mit fermentierter, säuerlicher Rote Beete und erweitert deren Erdigkeit geschickt mit exotischen Anklängen von Zitronengras. Den Apfel präsentiert er als sahnige Espuma, stark reduzierten Saft, Püree und Staub. Auch das Mischen der Teller untereinander funktioniert. Fruchtig, sahnig, lecker und wieder alles herausgeholt. Wunderbar!
Pastinake & Ziege
Das Hauptdessert kommt noch unkonventioneller daher. Simon Tress schichtet hier verschiedene Pastinaken- und Ziegenkäse-Zubereitungen übereinander. Neben einem Pastinaken-Salat, -Püree und -Eis, kocht er aus den Schalen der Wurzel ein großartig intensives Karamell, was uns entfernt an Ahornsirup erinnert. Den Ziegenkäse kombiniert er in verschiedenen Reifegraden (Frischkäse und Camembert) als Espuma. Man mag es kaum glauben, aber der Gang hat – trotz Gemüse und Käse - absoluten Dessert-Charakter und ist ein echter Knaller. Die süß verarbeitete, würzig-nussige Pastinake und der milde, sahnige Käse sind in Verbindung mit dem Karamell-Elixier ein sensationeller Genie-Streich.
Kuh & Karotte
Auf der schwäbischen Alb wird auch hervorragender Käse hergestellt. Simon Tress hat sich deshalb auch einen Käsegang einfallen lassen. Er serviert den Hartkäse heiß, als cremige Füllung in einem Raviolo und kombiniert diesen mit einer Rahmsoße von der Karottenschale und kontrastiert die üppigen Komponenten mit feinsäuerlicher, fermentiertet Karotte. Der heiße, geschmolzene Käse erinnert an den letzten Raclette-Abend. Ein schöner, runder und wohlig wärmender Käsegang, wie gemacht für in diese kalte Nacht im Februar. Saulecker!
Der Gang beendet ein Menü, welches in Anbetracht der regionalen und saisonalen Rahmenbedingungen, nicht nur mit seiner Einzigartigkeit glänzt. Simon Tress setzt konsequent im 1950 um, was sich viele Gastronomen (natürlich auch verständlicherweise) noch nicht trauen. Ein unaufgeregter, sympathischer Visionär, welcher weder hitzig belehren will, noch mit dem Finger auf andere zeigt. Simon Tress zeigt wie es gehen kann, und beschreitet im beschaulichen Hayingen, fernab urbaner Strömungen und Trends, aus tief verankerter Überzeugung, seinen Weg der Nachhaltigkeit. Gute Nacht, und auf bald!
Alkoholische Getränkebegleitung
Weinbegleitung (Fokus: biodyniamisch arbeitende Weingüter aus Süddeutschland)
Nicht-alkoholische Getränkebegleitung
Beinahe noch interessanter: Seit einiger Zeit gibt es eine liebevoll präparierte Getränkebegleitung ohne Alkohol, bestehend aus frisch gepressten Gemüse- und Obstsäften, Fermenten und Kräutern. Wunderbar passend zu den Gängen, z.B. Zwiebel-Wacholder-Apfel oder gesalzene Karotte.
Jonas Gründler, Markus Schäffauer & Simon Tress
Fazit
So schmeckt der Winter auf der Schwäbischen Alb. Mit reichlich Kreativität und Finesse entstehen in Hayingen die wohl regionalsten und saisonalsten Kreationen der Republik. Spannend, auf den Punkt, ehrlich und superlecker. Hier wird Fine Dining still und leise neudefiniert. Reservieren und erleben!
BIO-Fine-Dining-Restaurant 1950
www.tressbrueder.de/bio-fine-dining-restaurant-1950
Text, Fotos © les-etoiles.de
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