12Seasons (Berlin - Charlottenburg)

12Seasons (Berlin - Charlottenburg)
Jeder Monat hat seine Saison.

Der Ort:
Mein laienhaft zu großer Fake-Fur-Mantel und ich rangeln uns gegen distanzlose Herbstverwehungen durch die Giesebrechtstraße. Vor mir kugeln frisch geschlüpfte Kastanien pietätlos über Blätterleichen, fein geschnittene Gesichter blicken überlegen aus humorloser Oberbekleidung und ab und an plempert ein zugekokstes Rich Kid vom Balkon. Die denkmalgeschützten Fassaden der dahinter befindlichen 10-Zimmer-Baracken glotzen etwas konsterniert auf das non-chalante Treiben im mondänen 12 Seasons. Die kulinarische Dreifaltigkeit aus den ausnahmslos sympathischen Gastgebern Vitali Müller und Tim Hansen sowie Chefkoch Kamel Haddad fordern Charlottenburg als traditionelles Destillat Westberliner Selbstverständlichkeit stilvoll heraus, wobei Crossover und Charme konstante Begleiterinnen bilden.

Das Interieur:
Das zeigt sich schon an der Tür, die von Fashion-Ikone Peter diskret bewacht wird. Stets adrett gewandet, erkundigt er sich fürsorglich nach Impfstatus und Befinden und schwebt zuweilen Wasser und Wein anreichend durch den Gastraum. Letzterer wurde zusammen mit den befreundeten Architekten und Interior Designern Neikes Architekturen entworfen, was zur Folge hat, dass die perfide Superoptimierung der Innenausstattung mir das aufdringliche Gefühl gibt, alles an heimischem Mobiliar wäre Sperrmüll, auf den die BSR lüstern giert.
Ein U-förmiger Bartresen mit pinker Unterbodenbeleuchtung bietet Raum für 20 Gäste, während weitere 30 ihre Nischen auf grünen Samtstühlen hinter goldenen Metall-Gitter-Wänden besetzen dürfen. Die schwarze Vinyl-Tapete erinnert an ein Schallplattenrelief und ist so gewichtig, dass 3 Tapezierer an ihr verschlissen wurden, bis sie freundlicherweise an der Wand haften blieb. Der unkaputtbare und regenbogig schimmernde Bodenbelag aus recycelten Fischernetzen ist wohl der nachhaltigste, aber auch teuerste Bestandteil der Inneneinrichtung. Er verblendet ebenso eindrücklich wie die Riffelblechfliesen, die zwar nach U-Bahn-Schacht aussehen, aber aus Keramik gefertigt sind und durch aufgebrachte Oxide in der Farbgebung verheißungsvoll changieren.

Das Essen:
So sexy und kleinteilig durchdacht wie das Interieur des eleganten Ladens ist auch die Handschrift von Kochvirtuose Kamel Haddad. Versuchen andere trendbewusst ihre minimalistische Tellersprache bis auf Apple-Store-Niveau runterzureduzieren, geht es im 12 Seasons noch um Pomp und Tatütata auf dem Teller. Kamel Haddad kocht wild und instinktiv. Eine Menüabfolge wie ein expressionistisches Gemälde aus wahlweise 4, 6 oder 8 Gängen entsteht monatlich neu und entledigt sich souverän geschmacklicher Traditionslinien. Ich weiß, ich weiß, Sie haben keine Zeit 8 Gänge nachzulesen. Ich habe ja auch keine Zeit, 8 Gänge auszubuchstabieren, aber meine Favoriten muss ich Ihnen mit fürsorglicher Penetranz hier doch auftischen:

„Möchtest du Brot vorneweg?“ fragt Vitali. „Nee, ich denke, 8 Gänge tun’s!“. Solides Abwehrspiel von mir und Entscheidung retrospektiv für gut befunden. Auf unnötig abstopfende Zwischengänge wird verzichtet, sodass ich auch nach 8 stramm durchservierten Gängen solide im Barhocker einraste.
Ich starte mit einem typischen 12-Seasons-Gericht – herbstlich dicht, aber knallig verspielt. Ein 62-Grad-Ei thront auf intensiv-rustikalem Spitzkohlpüree, der das gestrig-profane Image seiner Pflanzenfamilie gehörig aufpoliert. Die Überraschung lauert stets im Unscheinbaren und so ergießt sich mittig angepiekst das Innenleben um die Erfrischungshappen aus Grapefruit und die in Rotwein eingelegten Datteln. Der mit Ingwer aromatisierte Spitzkohlsud puschelt sich als High-Umami-Walze schaumig um das Gesamtensemble und lässt mein Dopamin beim Reinschaufeln fröhlich randalieren. Kamel erkennt die verräterische Anziehungskraft zwischen mir und dem Spitzkohl-Aufguss und stellt mir mitfühlend das Töpfchen zum Nachschenken an meinen Platz. Versucht man das Geschmacksbild von 3 Gerichten in einen Gang zu zwingen, holpert sich die Harmonie in der Regel siegessicher vom Teller; bei Kamel brüllt sich jede Einzelkomponente zur stimmigen Gesamtheit.

Als wären 12 Menüwechsel im Jahr nicht schon ein ambitionierter Kreativ-Turnus, zeigt sich auch beim dritten Gang, dass Kamel in Tobelaune bleibt. Ein herbstlich rustikaler Gang sollte es werden, aber sich zwischen deftigem Hausmannskosteinschlag und filigraner Asian Fusion zu entscheiden, ist nichts für Kamels Maßnahmenkatalog. Beides kommt auf den Teller und zwar in Form von 12 Stunden und bei 82 Grad gegartem Schweinebauch auf Zuckermaispüree und asiatisch angehauchtem krossen Pulpo, auf dem sich kleine Ingwer-Gelspots mit tiefschwarzen aus Sepia-Tinte abwechseln. Flambierte Maiskölbchen flankieren das Ganze pittoresk. Angegossen wird ein intensiv-fruchtiger Pulpo-Schweinebauch-Sud, der mich zart entrückt vom Barhocker rutschen lässt.

„Kann es bei dir weiter gehen?“ Phew, ich spüre, dass ich das gerade Verschlungene und meine Foodie-Seele erst einmal wieder auseinander sortieren muss und erbitte mir von Tim eine Pause. Die wird genutzt für einen kleinen Besuch der liebevoll durchmusizierten Nasszellen, die ich im Clubbing-Modus durch einen neon-berohrten Gang erreiche und die mein Handwaschzeremoniell mit Wagner-Opern oder Vivaldis 12 Jahreszeiten (Hö? Gnihi.) begleiten, und mich direkt anmutiger zum Platz zurückflattern lassen.

Der Künstler:
Das Menü und die monatlich entsprechend ausgewählten Weine und Cocktails sind zwar Gemeinschaftswerk, aber die konkrete Zusammensetzung bleibt bis zum neuen Monat Kamels Geheimnis. Der kocht nämlich alles nur in seinem Kopf. Viele Gerichte werden monatlich rausgeschickt, ohne dass sie zuvor probiert wurden. „Ich habe alles im Kopf! Nach dem ersten Kochen überprüfe ich meist nur noch die Harmonie, aber ändern muss ich selten etwas“, so Kamel. Schon im Vorgänger-Restaurant, dem Neumond, war er dankbar für die freie Hand und das Vertrauen, das Tim und Vitali ihm entgegenschubsten. Sein Ausstieg aus der durchgetakteten Hotellerie war vorhersehbar, wollte er sich als Teller-Künstler nicht länger reglementieren lassen. Manchmal knutscht ihn die Muse in der U-Bahn, zuweilen erscheint das neue Menü skizzenhaft, während er ein Buch liest und in den meisten Fällen träumt er seine Gerichte.

Noch mehr Essen:
Kamel transformiert mental Gesehenes auf Keramik: Das Triptychon aus gelber, roter und weißer Beete hing vor einigen Wochen noch als optisches Knallbonbon am Baum vor dem Lokal und erreicht mich nun in Form von Gang Nr. 4. Ist der Rotkohl meist nur lieblos hingepfützter Sidekick auf dem Teller, wurde er von Kamel zum selbstbewussten Protagonisten hochfrisiert. Zum rigoros runterreduzierten Himbeer-Rotkohlpüree gesellen sich Rotkohlbaisertropfen und ein intensiv-fruchtiger Rotkohlsud, der mir die Gänsehaut bis unter den Scheitel zieht. Eingelegte Gojibeeren und zarte Blättchen des roten Dreiecksklees ergänzen elegante Oxalsäure. Meine kulinarische Romantikgardine zieht sich ungebremst zu.

Weitere Smasher im Menü: der in der Annahme sympathischer Mittelmäßigkeit verkannte Kohlrabi, der als Eis präsentiert wurde, überdies begeisterten ein beschwippstes Birnen-Baileys-Chutney und das Bier-Tee-Eis im Dessert. Hatte Bier bisher für mich eher kulinarischen Nullwert, erträume ich mir von diesem Eis Bällebadmenge. Bier wurde hier so lange eingekocht bis nur noch Kohlenhydratketten übrig blieben, die mit ihrer herben Süße dem schwarzen Tee unerwartet harmonisch ins Aroma greifen. Der integrierte St. Maur-Käse stammt nicht aus dem Brachialgenre und ergänzt schüchtern-erdend die in süß-säuerlicher Vinaigrette eingelegten Trauben. Rosinencrumble drauf und fertig ist der im Rahmen eines Sit-Ins mit Vitali entstandene Gang. Kamel trank schwarzen Tee, Vitali erlaubte sich ein Bier, das Resultat erfreute als Oktober-Süßigkeit die 12-Seasons-Jünger*innen.

Der Feierabend:
Die kleine Mümmelbacke droppt das Kulinarik-Mic und beschließt den Abend mit dem Gastcocktail „Ikuru“. Reingegluckert wird sich dieses Mal ein erfrischendes Gebräu aus prickelnder Yuzu und etwas Sake, das angekräutert von Salbei und Estragon mit harmonisierender Rose verkuppelt wird und von Vivian Schön aus der Bar Roter Rabe modelliert wurde. Mittlerweile verwandelt sich die Geräuschkulisse aus entspannter Loungemusik auf Pürierstabgeräuschen und Espumaflaschengepsssssscht hin zum leisen Klicken ausgeknipster Küchenlampen und der reinigenden Polierakustik erschöpfter Küchen-Armaturen. Statt zischender Pfannen klirren nun verstärkt Weingläser aneinander. Die ganzabendlich beobachtbare Küchenchoreographie eiert langsam in den Feierabend, während die um den Tresen drapierten Gäste rotbäckig angeschaltet abwechselnd mit den Köchen, Gastgebern oder selbst mitgebrachten Begleitungen plauschen; Kamel setzt seinen Rucksack auf, schnappt sich seinen Fahrradhelm und vertraut freundlich winkend darauf, dass hier später schon ordnungsgemäß abgeschlossen wird. Bei allem Stilbewusstsein und Aftershow-Feuer hat der Abend zurückgelehnten WG-Party-Charakter.
Allmählich korrigiert sich mein Puls wieder nach unten. Vitali kommt zu mir und erkundigt sich nach meiner Verfassung. Ich schaue von der zuletzt geleerten Keramikkachel auf:
„Krasser Typ, den ihr da hinter den Gaskartuschen haltet!“
„Krasser Typ!“ nickt er und grinst in seine OP-Maske.
12Seasons
Giesebrechtstraße 3
10629 Berlin
4 Gänge 59
6 Gänge 79
8 Gänge 99
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer