KONG - Berlin

KONG - Berlin
Über die Sichuan-Küche von Ling Ma
Halloween-Zeit - es ist gruselig in Berlin-Friedrichshain: Ich renne. Zum Einen weil ich spät dran bin, zum Anderen, weil ich mit meinem Schuh ein wenig Hundekot vom U-Bahn-Steig aufgelesen habe und schneller sein muss, als das herzhafte Wölkchen, das mir ungefragt um die flitzenden Waden schlingert. Vorbei an Spätis, aus denen hysterischer Bumm-Bumm-Techno dröhnt, weiter im Slalom durch die Beine eines Ich-trage-jetzt-wieder-Buffalos-aus-den-90ern-aber-voll-ironisch-Mädchens und stolpere über eines dieser bunt bemützten Bullerbü-Kinder mit sehr großen Schneidezähnen, das seiner Oma gerade ein Kürbisgedicht aufsagt.
Keuchend rette ich mich in die Niederbarnimstraße 4. Hier ist es ruhig. Hier bin ich sicher und bei Universal-Talent Ling Ma in guten Händen. Ling ist Architektin, Designerin, Köchin - eine Macherin, die auch vor tragenden Wänden nicht halt macht und ihr Restaurant sowohl selbst entkernt als auch - von Beton-Tischen über hochwertige Holzhocker bis hin zu aus schwarzen Plexiglas-Oktetten zusammengesetzten Statement-Lampen - selbst entworfen und ins Leben gebastelt hat.
Die Begleitung fällt Tong Liu, Lings Geschäftspartner, direkt in die Arme – beide kennen sich aus dem The Tree – dem chinesischen Nudelhaus in der Brunnenstraße - , das Ling und Tong seit 2016 betreiben.

Der Ableger Kong bietet – wie der Telling Name „Kong“ schon sprachgeschichtlich erzählt – einen Raum, in dem viel passiert und noch mehr möglich ist: ein multifunktionaler Ort, an dem neben Workshops, in denen man lernen kann, Bonsais herzustellen, regelmäßige Tee-Pop-Up-Events und Supperclubs stattfinden und abends Ling mit ihrem festen 5-Gang-Menü mit authentisch sichuanischer Küche aufwartet. Und das geht so:

Zum traditionellen Tee, den man sich an der Theke aus 2-3 Zutaten aus den aufgereihten Schraubgläschen zusammenstellen kann, gesellt sich unsere Vorspeise aus einem beeindruckend aromatischen Pilzsalat; dieser besteht aus Austern - , Enoki -, und Buchenpilzen sowie braunen Saitlingen, deren perfekt austarierte Würzigkeit von erfrischender Pomelo ergänzt wird. Dazu krachen knallrote Radieschen, die mit Salz fermentiert und dadurch ihrer Schärfe beraubt wurden, sodass ein mildes Radieschenaroma bleibt, das wiederum von grünen Okra-Schoten und schwarzem Sesam nicht nur optisch komplettiert wird.

Die für traditionelle Sichuan-Küche überraschende Milde des ersten Gangs lässt uns etwas naiv „Geht doch…mit der Schärfe!“ flüstern. Vielleicht etwas zu laut. Die Schärfedramaturgie des Abends nimmt ihren Lauf. Im zweiten Gang erwartet uns Mah-Pfeffer, zu dem Tongs Großmutter entschieden bei Zahnschmerzen rät, da er Schleimhäute zu betäuben vermag. Der typische Pfeffer, der tatsächlich ein ungewohntes Taubheitsgefühl auf der Zunge hinterlässt, wird zusammen mit weiteren süß-kräuterigen Sichuan-Gewürzen und buttrig-zarten, frittierten Hühnchennuggets in ein Papiertütchen gefüllt. Dies liegt nun auf unseren Tellern. Wir schauen Tong fragend an, worauf er uns ermutigt, die Papiertüten audiovisuell eindrucksvoll zu schütteln bis die Nebentische genervt zu uns herüberschauen. Das Schüttelhühnchen soll nicht nur einen typisch chinesischen Geschmack präsentieren, sondern auch für Interaktion mit (und zwischen – ups) den Gästen sorgen.

Es folgt das chinesische Pendant zur Currywurst: die Schrippe wird durch knuspriges Sesambrot ersetzt und als Umami-Walze rollt ein intensiv gewürzter Lammspieß über unsere Teller. In Sachen Schärfe-Progression übernimmt jetzt die Sichuan-Chili, die Tong und Ling einmal im Jahr direkt aus China mitbringen, denn Ling schüttelt nur lächelnd den Kopf auf meine Frage, ob man Chilis dieser Art nicht auch hier bekäme. Ling und Tong präsentieren uns mit diesem Gang ein typisch chinesisches Streetfood. Wir sollen uns eine Straße in China vorstellen, auf der sich Chines*innen nach Feierabend auf dem Heimweg noch einen Spieß auf die Hand mitnehmen, was nicht unüblich sei und ein ganz spezielles Straßengefühl ausmache.

Als Hauptgang erreicht uns eine intensive süß-saure Suppe auf Fischbasis mit aromatischem Yüxiang Pork, Staudensellerie und Shitaki-Pilzen; für die nächste Progressionsstufe in Sachen Feueralarm sorgen fermentierte Chilis, die uns jetzt wirklich die Schweißperlen auf die Stirn und die Tränen in die Augen treiben. Es rettet uns der bunte Reis, der fruchtig gewürzt und harmonisierend ausgleicht. Phew. Authentisch sagt man wohl. Wer Schärfe liebt, erlebt hier einen herausfordernden Gang, der fein durchkomponiert alle Anforderungen an einen Hauptgang erfüllt.

Als Dessert entlässt uns ein sowohl herbstlicher als auch harmloser Kürbispudding aus unserer Schärfe-Umnachtung. Ling hat bei diesem bewusst wenig Süße verwendet, was den Pudding nach all den intensiven Gewürzen etwas erblassen lässt. Die - ursprünglich asiatische - „süße Tomate“, die hier in Berlin eher als Kaki bekannt und zu Recht als Götterfrucht bezeichnet wird, versorgt den leichtgängigen Pudding mit notwendiger Fruchtsüße.
Wir sind beseelt und werden von Tong und Ling auf einen typisch sichuanischen Edel-Schnaps eingeladen – dieser sorgt dafür, dass ich mich schließlich doch traue, als potentielle Käuferin der Design-Lampen bei eventueller Umdekoration in Erscheinung zu treten. Es dürfen nicht nur Objektophile hier einreiten und Lings Lampen belobhudeln, alle können bis Januar noch das beschriebene Menü genießen, bevor dann wieder monatlich gewechselt wird. In der Zwischenzeit lässt es sich angemessen im The Tree reservieren und wir ziehen derweil in die Friedrichshainer Nacht und treten dabei weder in Hundekot, noch wummert uns Bumm-Bumm-Techno entgegen, ein Hipster lächelt freundlich und alle Bullerbü-Kinder schlafen schon – Berlin-Friedrichshain ist wie das „Kong“ – ein Ort, an dem so viel möglich ist.
Michaela Bauer ist freie Autorin. Auf ihrem Blog Geschmackssinniges berichtet sie über kulinarische Auffälligkeiten, verfasst unkonventionelle Restaurantkritiken und stellt freche Fragen.
Fotos, Text © Michaela Bauer